
Lieferkettenmanagement in der Medizinprodukte-Industrie: Prozess, Kriterien und Best Practices
Die Medizinprodukteindustrie ist eine hochinnovative und wachsende Branche, die einen wesentlichen Beitrag zur Gesundheitsversorgung und zum Wohlstand der Gesellschaft leistet. Gleichzeitig steht sie vor zahlreichen Herausforderungen, die ein effektives und nachhaltiges Supply Chain Management erfordern. Denn die Lieferketten in der Medizinprodukteindustrie sind oft komplex, global und reguliert. Sie umfassen zahlreiche Akteure wie Hersteller, Zulieferer, Händler, Kliniken, Ärzte und Patienten und müssen dabei hohe Anforderungen an Qualität, Sicherheit, Zuverlässigkeit und Compliance erfüllen.
Prozess des Lieferkettenmanagements in der Medizinprodukte-Industrie
Der Prozess des Supply Chain Managements in der Medizinprodukteindustrie umfasst alle Aktivitäten, die zur Planung, Steuerung und Optimierung des Material-, Informations- und Finanzflusses von der Beschaffung über die Produktion bis zur Auslieferung an den Kunden erforderlich sind.
Zu den wesentlichen Prozessschritten gehören
- Die Bedarfsplanung: Hier werden aktuelle und zukünftige Kundenbedürfnisse analysiert und prognostiziert, um die optimale Menge und den optimalen Zeitpunkt für die Beschaffung und Produktion von Medizinprodukten zu bestimmen. Ein aktuelles Beispiel für die Bedarfsplanung in der Medizinprodukteindustrie ist die Analyse des Bedarfs an Beatmungsgeräten während der COVID-19-Pandemie, die weltweit eine große Herausforderung für die Gesundheitssysteme darstellte.
- Die Beschaffung: Hier werden geeignete Lieferanten für die benötigten Materialien oder Komponenten ausgewählt und bewertet, Verträge ausgehandelt und Bestellungen getätigt. Dabei sind auch die im nächsten Abschnitt erläuterten Kriterien zur Auswahl und Bewertung kritischer Lieferanten zu beachten.
- Produktion: Hier werden die Materialien oder Komponenten zu fertigen Medizinprodukten verarbeitet, geprüft und verpackt. Hier sind die regulatorischen Anforderungen an die Herstellung von Medizinprodukten zu beachten, wie z.B. die Konformitätsbewertung nach der Medical Devices Regulation (MDR) der EU. Ein häufig verwendetes Medizinprodukt, das hohe Anforderungen an die Produktion stellt, ist das Blutzuckermessgerät, das zur Selbstkontrolle von Diabetikern dient und deren Lebensqualität verbessert.
- Vertrieb: Hier werden die fertigen Medizinprodukte direkt oder über Zwischenhändler an die Kunden geliefert. Auch hier sind die regulatorischen Anforderungen an den Vertrieb von Medizinprodukten zu beachten, wie zum Beispiel die Rückverfolgbarkeit oder die Meldung von Vorkommnissen.
- Nachsorge: Hier werden die Medizinprodukte während ihrer Nutzungsdauer überwacht und gewartet, um ihre Funktionsfähigkeit und Sicherheit zu gewährleisten. Ein Beispiel für ein Medizinprodukt, das eine kontinuierliche Nachsorge erfordert, ist das künstliche Hüftgelenk, das bei Patienten mit Arthrose eingesetzt wird und deren Mobilität erhöht. Die regulatorischen Anforderungen an die Nachbeobachtung von Medizinprodukten, wie z. B. die Marktüberwachung oder die klinische Bewertung, sind dabei zu berücksichtigen.
Der Prozess des Supply Chain Managements in der Medizinprodukteindustrie ist einem ständigen Wandel unterworfen, der neue Herausforderungen und Chancen mit sich bringt.
Kriterien für die Auswahl und Bewertung von kritischen Lieferanten
Die Auswahl und Bewertung kritischer Lieferanten ist ein wesentlicher Schritt im Prozess des Supply Chain Managements in der Medizinprodukteindustrie. Denn die Leistung und Qualität der Lieferanten hat einen direkten Einfluss auf die Leistung und Qualität der eigenen Produkte und Dienstleistungen. Unternehmen müssen daher sorgfältig prüfen, mit welchen Lieferanten sie zusammenarbeiten wollen und wie sie deren Leistung überwachen und verbessern können.
Kriterien für die Auswahl und Bewertung kritischer Lieferanten sind z.B:
- Qualität der gelieferten Produkte oder Dienstleistungen: Die Produkte oder Dienstleistungen müssen den Anforderungen des Unternehmens und der Kunden entsprechen, frei von Fehlern oder Mängeln sein und eine hohe Zuverlässigkeit und Langlebigkeit aufweisen.
- Die Lieferfähigkeit des Lieferanten: Der Lieferant muss in der Lage sein, die benötigten Produkte oder Dienstleistungen in der richtigen Menge, zum richtigen Zeitpunkt und am richtigen Ort zu liefern. Er muss auch in der Lage sein, flexibel auf Veränderungen der Nachfrage oder des Marktes zu reagieren.
- Der Preis der gelieferten Produkte oder Dienstleistungen: Der Preis muss wettbewerbsfähig sein und die Gesamtkosten des Unternehmens minimieren. Dabei sind nicht nur die direkten Kosten zu berücksichtigen, sondern auch die indirekten Kosten wie z.B. Transport-, Lager- oder Qualitätskosten.
- Das Risiko, dass Lieferanten ausfallen oder die Anforderungen nicht erfüllen: Das Unternehmen muss das Risiko bewerten, dass der Lieferant seine vertraglichen Verpflichtungen nicht erfüllen kann oder will, zum Beispiel aufgrund von Insolvenz, Streik, Naturkatastrophen oder politischen Konflikten. Das Unternehmen muss auch Maßnahmen ergreifen, um dieses Risiko zu verringern oder zu vermeiden, wie z.B. die Suche nach alternativen Lieferanten oder die Erstellung von Notfallplänen.
- Vertrauen und Verlässlichkeit in der Zusammenarbeit: Der Lieferant muss ein vertrauenswürdiger und langfristiger Partner sein, der die Interessen des Unternehmens versteht und unterstützt. Er muss eine transparente und offene Kommunikation pflegen, Probleme schnell und konstruktiv lösen und kontinuierlich an der Verbesserung seiner Leistungen arbeiten.
Neben diesen allgemeinen Kriterien müssen die Unternehmen auch die spezifischen Anforderungen der Medizinprodukteindustrie berücksichtigen, wie z.B:
- Nachhaltigkeit der angebotenen Produkte oder Dienstleistungen: Die Produkte oder Dienstleistungen müssen umweltfreundlich und sozialverträglich sein. Der Lieferant muss seine ökologischen und sozialen Auswirkungen minimieren und dies auch nachweisen können. Er muss auch die Sorgfaltspflichten erfüllen, die sich aus dem nationalen Gesetz zur Sorgfaltspflicht in der Lieferkette (LkSG) oder der geplanten EU-Richtlinie (Corporate Sustainability Due Diligence Directive, kurz CSDDD) ergeben.
- Die Konformität der gelieferten Produkte oder Dienstleistungen: Die Produkte oder Dienstleistungen müssen den regulatorischen Anforderungen für Medizinprodukte entsprechen, wie z.B. der Medical Devices Regulation (MDR) der EU. Der Lieferant muss die Konformität nachweisen können und alle relevanten Informationen zur Verfügung stellen. Außerdem muss er Vorkommnisse oder Änderungen melden und mit den Behörden zusammenarbeiten.
Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) und seine Bedeutung für die Medizinprodukte-Industrie
Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Auswahl und Bewertung kritischer Lieferanten ist die Einhaltung des am 1. Januar 2023 in Kraft getretenen Gesetzes zur Sorgfaltspflicht in der Lieferkette. Dieses Gesetz regelt die Verantwortung von Unternehmen für die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltschutz in globalen Lieferketten. Was bedeutet dieses Gesetz für die Medizinprodukteindustrie und wie können Unternehmen ihrer Sorgfaltspflicht nachkommen?
Seit diesem Jahr müssen Unternehmen mit mehr als 3.000 Mitarbeitern und ab 2024 Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitern das neue Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz beachten. Dieses Gesetz verpflichtet Unternehmen zur Achtung und Förderung von Menschenrechten und Umweltschutz in ihren Lieferketten. Die meisten kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die einen Großteil der Medizinproduktebranche ausmachen, sind nur aktuell nur indirekt betroffen. Denn als Zulieferer größerer Unternehmen oder Kliniken müssen auch sie nachweisen, dass sie in ihrer Lieferkette keine Menschenrechtsverletzungen dulden oder verursachen. Das heißt, sie müssen geeignete Maßnahmen zur Risikoerkennung, -vermeidung und -behebung ergreifen.
Durch ein nachhaltiges Lieferkettenmanagement können Unternehmen diese Risiken reduzieren und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden. Dies stärkt auch ihre Reputation, Wettbewerbsfähigkeit, Kostenstruktur und Innovationskraft.
Tipps für ein effektives und nachhaltiges Lieferkettenmanagement
Nicht nur die Erfüllung der regulatorischen Anforderungen, sondern auch die kontinuierliche Verbesserung der eigenen Prozesse, Produkte und Dienstleistungen sowie die verantwortungsvolle Zusammenarbeit mit den Lieferanten sind Voraussetzungen für ein effektives und nachhaltiges Supply Chain Management in der Medizinprodukteindustrie. Die folgenden Best Practices oder Tipps können dabei hilfreich sein:
- Respezifikation bzw. Standardisierung von Produkten: Durch die Anpassung oder Standardisierung von Produktspezifikationen oder -standards können Unternehmen die Komplexität ihrer Lieferketten reduzieren, die Anzahl der Lieferanten verringern, die Qualität verbessern und Kosten senken. Beispielsweise können sie modulare oder austauschbare Komponenten verwenden, die von verschiedenen Lieferanten bezogen werden können.
- Risikomanagement mit Menschenrechtsbeauftragten: Durch die systematische Identifizierung, Bewertung und Behandlung von Risiken in der Lieferkette werden mögliche negative Auswirkungen auf Umwelt oder Menschenrechte vermieden oder minimiert. Dabei können sie von Menschenrechtsbeauftragten unterstützt werden, die als Ansprechpartner für Beschwerden oder Hinweise dienen und die Einhaltung der Sorgfaltspflichten überwachen.
- Transparente Kommunikation mit Kunden und Zulieferern: Durch eine transparente und offene Kommunikation mit Kunden und Lieferanten können Unternehmen das Vertrauen und die Zufriedenheit erhöhen, Probleme frühzeitig erkennen und lösen, Erwartungen abstimmen und Feedback einholen. Beispielsweise können regelmäßige Treffen oder Befragungen durchgeführt, Kennzahlen oder Zertifikate ausgetauscht oder gemeinsame Ziele vereinbart werden.
- Digitale Lösungen zur Prozessoptimierung: Unternehmen können digitale Lösungen nutzen, um Prozesse zu optimieren, ihre Effizienz und Effektivität zu steigern, Fehler zu reduzieren, Transparenz zu schaffen und Innovationen zu fördern. Beispielsweise können sie digitale Plattformen oder Tools nutzen, um Aufträge zu verwalten, Daten auszutauschen, Lieferungen zu verfolgen oder Analysen durchzuführen.
Fazit und Ausblick
Das Lieferkettenmanagement in der Medizinprodukteindustrie ist eine anspruchsvolle und wichtige Aufgabe, die einen wesentlichen Beitrag zur Gesundheitsversorgung und zum Wohlstand der Gesellschaft leistet. Neben der Erfüllung der regulatorischen Anforderungen müssen die Unternehmen ihre eigenen Prozesse, Produkte und Dienstleistungen sowie die Zusammenarbeit mit ihren Lieferanten kontinuierlich verbessern, um ein effektives und nachhaltiges Supply Chain Management zu gewährleisten. Dabei können die dargestellten Handlungsfelder und Best Practices bzw. Tipps hilfreich sein.
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